In den Beständen von 14 deutschen Bibliotheken sind in den letzten Jahren im Zuge der Provenienzforschung 41 Bände aus dem Eigentum des österreichischen Schriftstellers Raoul Fernand Jellinek-Mercedes (1888 Algier–1939 Baden bei Wien) identifiziert worden. Dieser wurde nach dem ‘Anschluss’ Österreichs im März 1938 als Jude verfolgt und nahm sich im Februar 1939 unter dem Verfolgungsdruck das Leben. In einer von der Deutschen Nationalbibliothek koordinierten gemeinsamen Restitution haben die 14 Bibliotheken die identifizierten Bücher nun an die Erb*innengemeinschaft Raoul Fernand Jellinek-Mercedes zurückgegeben und sie im Rahmen einer gerechten und fairen Lösung anschließend für ihre Sammlungen wieder angekauft.
Raoul Fernand Jellinek-Mercedes
Raoul Fernand Jellinek wurde als Sohn von Emil Jellinek (1853–1918) und Rachel Gogman-Azoulay (1854–1893) in Algier geboren. Sein Vater war Industrieller, Diplomat und Geschäftsmann, der ab 1898 Daimler-Automobile vertrieb. Nach seiner Tochter Mercedes (1889–1929) wurde das gleichnamige Auto benannt. 1903 änderte die Familie ihren Nachnamen in Jellinek-Mercedes um. Seit 1908 war Raoul Fernand Jellinek-Mercedes mit Léopoldine Weiss (1885–1981) verheiratet. Bis 1938 lebte das Paar in Baden bei Wien. Raoul Fernand Jellinek-Mercedes schrieb u.a. für die Badener Zeitung, war förderndes Mitglied des Wiener Musikvereins und besaß eine große Musikalien- und Gemäldesammlung sowie eine Bibliothek.

Nach dem ‘Anschluss’ Österreichs im März 1938 wurde Raoul Fernand Jellinek-Mercedes als Jude verfolgt. Er versuchte vergeblich, sich als sogenannten Mischling anerkennen zu lassen, konnte allerdings anhand seiner Geburtsurkunde die Religion seiner Eltern und Großeltern nicht nachweisen. Infolgedessen wurden seine Konten eingefroren, sodass er immer wieder gezwungen war, Stücke aus seinen Sammlungen zu verkaufen. Am 10. Februar 1939 nahm er sich unter dem Druck der nationalsozialistischen Verfolgung das Leben. Auch nach seinem Tod war seine Witwe Leopoldine Weiss zu weiteren Zwangsverkäufen genötigt. Rückblickend beschrieb sie diese wie folgt: „Am 10. Februar erschoss sich mein Gatte nach einer Amtshandlung des Vollstreckungsbeamten. Mein Gatte stand vor der Verhaftung. Ich musste nach meinem Gatten an Judenvermögensabgabe 32.000 RM bezahlen. Um diese enorme Summe aufzubringen musste ich die überaus kostbare Bibliothek, die einzigartige Partitur-Sammlung und mein Grundstück in Baden …, ferner Schmuck und fünf sehr wertvolle Perserteppiche, weit unter Wert veräußern.”1 Wie die im Zuge der Provenienzforschung identifizierten Bände bezeugen, wurde die Privatbibliothek durch diese Verkäufe über den Antiquariatsbuchhandel völlig zerstreut.
Die 41 Bände wurden in den folgenden Bibliotheken aufgefunden:
- Bayerische Staatsbibliothek München
- Bibliothek des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr Potsdam (vertreten durch das Fachinformationszentrum der Bundeswehr, Bonn)
- Bibliothek des Zentrums Informationsarbeit Bundeswehr Strausberg (vertreten durch das Fachinformationszentrum der Bundeswehr, Bonn)
- Deutsches Literaturarchiv Marbach
- Deutsche Nationalbibliothek Leipzig
- Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar, Klassik Stiftung Weimar
- Landesbibliothekszentrum Rheinland-Pfalz, Pfälzische Landesbibliothek Speyer
- Leipziger Städtische Bibliotheken
- Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden
- Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
- Stadtbibliothek Chemnitz
- Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt
- Universitätsbibliothek J. C. Senckenberg Frankfurt am Main
- Württembergische Landesbibliothek Stuttgart
Die einzelnen Werke entstammen den unterschiedlichsten Themengebieten. Neben Biografien bedeutender Persönlichkeiten befinden sich darunter Bücher zur Kunst der Buchillustration, zur zeitgenössischen Musik, zur Literatur, aber auch militärhistorische Darstellungen. Neben neueren Erscheinungen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert erwarb Jellinek-Mercedes gezielt auch ältere Drucke: Allein sieben Titel aus der Fundliste datieren aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Die gemeinsame Dokumentation der Buchfunde ermöglicht so eine zumindest ausschnittsweise Rekonstruktion der Sammlung Jellinek-Mercedes und macht sichtbar, dass es sich um eine in ihren Sammelschwerpunkten sehr breit angelegte, kostbare Privatbibliothek eines universal interessierten Bildungsbürgers handelte.

Die Wege der Bücher
Die beteiligten Einrichtungen haben die Bände in teils bereits abgeschlossenen, teils noch laufenden Recherchen identifiziert. Bereits länger in der Lost Art-Datenbank dokumentiert sind etwa die Funde aus bereits abgeschlossenen Forschungsprojekten der Pfälzischen Landesbibliothek Speyer und der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Die jüngsten Funde stammen u.a. aus einem Erstcheck in der Stadtbibliothek Chemnitz und laufenden systematischen Bestandsprüfungen in der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt sowie dem Fachinformationszentrum der Bundeswehr.
Nicht immer kann der Herkunftsweg der einzelnen Bände in die jeweiligen Bibliotheken lückenlos nachvollzogen werden. Der vergleichende Blick auf die Provenienzketten macht aber übergreifende Muster sichtbar.2 So belegen die Erwerbungen, die von den Bibliotheken noch während des Krieges getätigt wurden, wie schnell Raoul Fernand Jellinek-Mercedes’ Bücher nach den Zwangsverkäufen im Antiquariatshandel zu zirkulieren begannen. Die Thüringische Landesbibliothek Weimar etwa erwarb im Dezember 1943 über den Antiquar Lothar Hempe einen Katalog der Bücher des deutschen Diplomaten, Literaten und Bibliophilen Eduard Grisebach, weil der Band für die Bibliothek von grundlegendem Interesse war. Die 1944/45 von der Stadtbibliothek Leipzig getätigten Erwerbungen – 1944 bei einem bislang noch nicht identifizierten Antiquariat, 1945 bei Hiersemann in Leipzig – dienten dem Wiederaufbau der kriegsbedingt stark dezimierten Bestände. Noch früher dürfte ein ab 1947 in der Stadtbibliothek Chemnitz nachgewiesenes französischsprachiges Exemplar seinen Weg ins Deutsche Reich gefunden haben: Ausweislich seiner Provenienzmerkmale befand es sich spätestens ab Juni 1941 im Stalag IV F, dem in Hartmannsdorf bei Chemnitz eingerichteten sogenannten Stammlager für vor allem französische Kriegsgefangene. Prüfvermerke und Datumstempel weisen nach, dass es bis Dezember 1941 mindestens vier Mal ausgeliehen wurde.
Dass die Bände aus Raoul Fernand Jellinek-Mercedes’ Privatbibliothek bereits in den ersten Nachkriegsjahren weit über den deutschen Antiquariatsbuchhandel zerstreut waren, belegen zwei Erwerbungen der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt und der Pfälzischen Landesbibliothek Speyer: Darmstadt kaufte 1947 bei Adele Kappus aus Kronberg an, der ehemaligen Prokuristin der Joseph Baer & Co Buchhandlung und Antiquariat in Frankfurt am Main. In Speyer wiederum wurde das Exemplar laut Zugangsbuch 1949 vom Hamburger Antiquariat Hauswedell geliefert.
In den Nachkriegsjahrzehnten erweiterte sich das Spektrum der Zugangswege. Für die Leipziger Stadtbibliothek folgte auf den Erwerb nach Kriegsverlust zu Beginn der 1950er Jahre die erneute Abgabe: Als sie zu Beginn der 1950er Jahre in eine Volksbibliothek umgewandelt wurde, gab sie große Teile ihres wissenschaftlichen Altbestands an andere Leipziger Einrichtungen ab, wodurch 14 Bände der Zeitschrift für Bücherfreunde ins Deutsche Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek gelangten. Einen weiteren Band kaufte das Deutsche Buch- und Schriftmuseum 1986 beim Norddeutschen Antiquariat in Rostock an, das ebenso wie das Zentralantiquariat der DDR zum staatlichen Buchhandel gehörte. Über Letzteres erwarben auch die Landesbibliothek Dresden und die Deutsche Staatsbibliothek Berlin einzelne Exemplare. Ein Verkauf aus der DDR in die BRD ist im Fall der Universitätsbibliothek J. C. Senckenberg Frankfurt am Main belegt, die ihr Exemplar 1957 als Teil eines größeren Konvoluts beim Deutschen Buchexport Leipzig erwarb. Ob auch die Württembergische Landesbibliothek ihr Exemplar aus der DDR ankaufte, kann bisher weder ausgeschlossen noch nachgewiesen werden. In BRD und DDR gleichermaßen dokumentiert sind schließlich Exemplare, die im Nachlass von Privatpersonen in die Bibliotheksbestände übergingen. Einen Sonderfall bildet das Deutsche Literaturarchiv Marbach, dessen Exemplar 1961 als Nachlieferung zur Übernahme des Cotta-Archivs einschließlich der Verlagsbibliothek aus der Württembergischen Landesbibliothek nach Marbach kam.

Die Zerstreuung der Bibliothek von Raoul Fernand Jellinek-Mercedes in den Jahren nach 1945 macht insofern geradezu exemplarisch die Muster der Zirkulation von „sekundärem NS-Raubgut“ in beiden deutschen Staaten sichtbar. Diese Verteilungsmuster bestätigen sich auch durch die Zugangswege von Büchern der Provenienz Jellinek-Mercedes, die 2003 von der Stadtbibliothek Essen,3 2011 von der Zentral- und Landesbibliothek Berlin, 2012 von der Universitätsbibliothek der Medizinischen Universität Wien,4 2013 von der Universitätsbibliothek Leipzig,5 2016 gemeinsam von der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg und der Universitätsbibliothek Rostock6 sowie 2022 von der Universitätsbibliothek Wien restituiert worden sind.7
Vernetzte Forschung, gemeinsame Restitution
Bei der Recherche konnten die beteiligten Bibliotheken an diese früheren Restitutionen anknüpfen, sodass der verfolgungsbedingte Entzug der Bände aus der ehemaligen Bibliothek von Jellinek-Mercedes unstrittig war. Ein Großteil der Buchfunde wurde bereits frühzeitig in der Lost Art-Datenbank dokumentiert. Die weitere Vernetzung der betroffenen Bibliotheken erfolgte über den Arbeitskreis Provenienzforschung und Restitution – Bibliotheken: die identifizierten Bände wurden in einer gemeinsamen Fundliste zusammengetragen, und die Deutsche Nationalbibliothek koordinierte federführend das weitere Vorgehen. Bei der Ermittlung der Erb*innen orientierten sich die beteiligten Bibliotheken an einer im Dezember 2022 abgeschlossenen Restitution der Universitätsbibliothek Wien, da die in diesem Zuge von der Israelitischen Kultusgemeinde Wien erstellte Erbfolgedokumentation neue Erkenntnisse zutage gefördert hatte.8 Um der Erb*innengemeinschaft Einzelverhandlungen mit 13 Einrichtungen9 zu ersparen, agierte die Deutsche Nationalbibliothek bei der Kontaktaufnahme und Unterzeichnung der Restitutionsvereinbarung als Stellvertreterin aller beteiligten Bibliotheken. Die gemeinsame Restitution belegt daher nicht nur, dass eine systematische Bestandsprüfung in Bibliotheken auch 80 Jahre nach Ende des Nationalsozialismus unverändert wichtig ist. Sie verdeutlicht auch die essenzielle Rolle der Zusammenarbeit von Provenienzforscher*innen, um die Bezüge zwischen verstreuten Sammlungen wiederherzustellen und gemeinsam gerechte und faire Lösungen zu finden.
1 Zitiert nach Walter Mentzel, „Raoul Fernand Jellinek-Mercedes“, in: Lexikon der österreichischen Provenienzforschung, 06.01.2019, URL: https://www.lexikon-provenienzforschung.org/jellinek-mercedes-raoul-fernand (zuletzt abgerufen am 27.03.2025).
2 Für eine vollständige Übersicht der bisher bekannten Erwerbswege, vgl. ProvenienzWiki, Eintrag “Raoul Fernand Jellinek-Mercedes”, 23.04.2025, URL: https://provenienz.gbv.de/Raoul_Fernand_Jellinek-Mercedes (zuletzt abgerufen am 30.04.2025). Ich danke Regine Dehnel für ihre Zusammenführung der diversen Herkunftsinformationen.
3 Reinhard Brenner, Zur Geschichte der Sammlung Jellinek-Mercedes – ein Briefwechsel, in: Forum Bibliothek und Information 56 (2004), H. 5, S. 351–357; Reinhard Brenner, Die Sammlung Jellinek-Mercedes in der Stadtbibliothek Essen, in: Regine Dehnel (Hg.), Jüdischer Buchbesitz als Raubgut. Zweites Hannoversches Symposium, Frankfurt a.M. 2006, S. 379–385.
4 Walter Mentzel, Bibliothek „Raoul Fernand Jellinek-Mercedes“. Restitutionsdossier Nr. 3 (Kurzfassung), Universitätsbibliothek Medizinische Universität Wien, 01.11.2011, URL: https://ub.meduniwien.ac.at/fileadmin/content/OE/ub/dokumente/Restitutionsdossier_03_Jellinek_Mercedes.pdf (zuletzt abgerufen am 24.04.2025).
5 Anett Krause und Cordula Reuß (Hg.), NS-Raubgut in der Universitätsbibliothek Leipzig. Katalog zur Ausstellung in der Bibliotheca Albertina, 27. November 2011 bis 18. März 2012 (= Schriften aus der Universitätsbibliothek Leipzig 25), Leipzig 2011, S. 58–59.
6 Maria Kesting, “Dem Fernand Jellinek-Mercedes sein Buch”, Blog der SUB Hamburg, 03.01.2017, URL: https://blog.sub.uni-hamburg.de/?p=21856 (zuletzt abgerufen am 24.04.2025).
7 Markus Stumpf und Mathias Lichtenwagner, „… erschoss sich mein Gatte nach einer Amtshandlung des Vollstreckungsbeamten“: Raub und Rückgabe aus der Sammlung Raoul Jellinek-Mercedes“, in: Birgit Kirchmayr und Pia Schölnberger (Hg.), Restituiert. 25 Jahre Kunstrückgabegesetz in Österreich (Schriftenreihe der Kommission für Provenienzforschung Bd. 9), Wien 2023, S. 344-351.
8 Ebd.
9 Die Bibliothek des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam sowie die Bibliothek des Zentrums Informationsarbeit Bundeswehr Strausberg wurden beide durch das Fachinformationszentrum der Bundeswehr vertreten, sodass die Restitution zwar 14 Bibliotheken betraf, aber nur 13 Einrichtungen in die Verhandlungen involviert waren.
Dr. Emily Löffler ist Referentin für Provenienzforschung an der Deutschen Nationalbibliothek.
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RETOUR - Freier Blog für Provenienzforschende (8. Mai 2025). 14 Bibliotheken und Archive geben gemeinsam Bücher an die Erb*innen von Raoul Fernand Jellinek-Mercedes zurück. RETOUR. Abgerufen am 20. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/13w3z